Resümee
Die Geschichte der memoria als Bestandteil älterer Rhetoriken ist eine Geschichte der Auseinandersetzung mit dem antiken Theorieerbe. Die antiken Rhetoriker widmeten sich der Mnemonik mit größerer Selbstverständlichkeit als die mittelalterlichen. Die Praxis forensischer Rede und öffentlicher oder schulischer Deklamation war in der Antike so gegenwärtig, daß das Memorieren als oratorischer Arbeitsgang natürlich in die Rhetoriktheorie einbezogen werden mußte. Die klassischen Systemrhetoriken behandelten sie als vierte der fünf Aufgaben des Redners (officia oratoris), die das rhetoriktheoretische Makrogefüge bildeten. Inhaltlich setzte man sich in unterschiedlichem Umfang mit Ursachen und Bedingungen des Erinnerungsvermögens sowie Techniken der Memorierkunst auseinander. An der Praktikabilität der komplizierten Inhaltsörterlehre, wie sie der Autor ad Herennium formuliert, kamen schon in der Antike Zweifel auf. Dennoch wurde sie teils rudimentär, teils eigentümlich abgewandelt, bis in die frühe Neuzeit hinein tradiert. Kritische Rhetoriker konzentrierten sich demgegenüber mit Quintilian mehr auf die Bedingungen und Möglichkeiten des Texteinprägens. Immer aber stand die Mnemonik im Schatten der intensiver erörterten text- und kommunikationstheoretischen Fragestellungen der Rhetorik. Die wenig überzeugenden Mnemotechniken, über deren antike Ansätze man im Rahmen der Rhetorik nicht hinauskam, und die Zuordnung des Erinnerungsvermögens zum Bereich atechnischer Naturbegabungen veranlaßten schließlich viele Rhetoriker, ganz auf die Behandlung der memoria zu verzichten. Unterstützt wurde dies durch die neue Rolle der Rhetorik in der nachantiken Kultur. Das alte Deklamations-und Redewesen verschwand, und die Rhetorik wurde für lange Zeit zur scholastischen Textwissenschaft. Der Humanismus brachte in dieser Hinsicht zwar eine teilweise Rückbesinnung, doch etablierten sich gerade hier auch mächtige Gegner der Mnemonik, die auf lange Sicht eine endgültige Abkoppelung dieser alten pars rhetoricae vom rhetorischen System bewirkten.