Resüme
Die vorliegende Studie versucht im Kontext der rezenten Memoriaforschung und der Diskussion um Mündlichkeit und Schriftlichkeit, den Kanon der Gedächtniskünstler von antiken Staatsmännern und Philosophen über mittelalterliche Heilige und Asketen bis hin zu humanistischen Gelehrten und barocken Polyhistoren sowie modernen Mathematikern und Naturwissenschaftlern in seinen wissenschaftsgeschichtlichen Wandlungen zu rekonstruieren. Darüber hinaus verfolgt sie den Typus des Gedächtnisathleten in der fiktionalen Literatur Europas und Amerikas, speziell in der Erzählprosa der Neuzeit, in der die Figur zum Teil aus Perspektiven der Naturwissenschaft, Neuropsychologie, Gehirnforschung und Gedächtnisforschung, betrachtet und in ihren psychopathologischen Zügen problematisiert wird. Am Ende des zweiten Millenniums, in dem der Computer verstärkt als ausgelagertes Gedächtnis begriffen wird, erscheint der Mensch mit phänomenalem Gedächtnis, bildlich häufig als wandelnde Bibliothek apostrophiert, schließlich auch als Repräsentant der eine enzyklopädische Kultur des Zitierens präferierenden Postmoderne